Wenn Verlangen ansteckend wird: Eine Einführung in mimetische Wünsche

Nach dem Abitur konnte ich mich nicht zwischen zwei Berufswegen entscheiden: Wirtschaft oder Psychologie. Ich liebte die Psychologie damals schon sehr, aber meine Eltern wollten lieber, dass ich Betriebswirtschaft studiere, da dies vielversprechender wäre. Ich komme aus einer nicht sehr wohlhabenden Familie und meine Vorstellung von Luxus war ein warmes Abendessen und Schokoladeneis als Nachspeise. Daher schien mir die Idee, mein ganzes Leben von einem bequemen Stuhl aus Fragen zu stellen, als Gipfel an Extravaganz. Ich wünschte mir damals, dass Gott oder Amazon mir eine DVD schicken würden, die mein Leben in beiden Berufen zeigt. Aber es kam keine DVD und daher wählte ich den sichersten Schritt. Die Vorstellung, immer einen Job zu finden und genug Geld zu verdienen, ließ mich Wirtschaft studieren. Wie ich schnell herausfand, passte das gesamte Studium nicht zu mir - das war nicht ich. Aber ich machte trotzdem weiter, um meine Familie nicht zu enttäuschen.

Vermutlich kennen Sie selbst so ein Dilemma. Jeder von uns wird gelegentlich von einer Vielzahl konkurrierender Möglichkeiten überwältigt: Jobangebot A oder B? Stadt oder Land? Frühmorgens für den Marathon trainieren oder lieber die Zeit im Bett verbringen? Das Leben ist voller Marathons, und es ist wichtig zu wissen, welche es wert sind, gelaufen zu werden.

Wenn man sich etwas sehr wünscht, wie den neuen Job oder die Beförderung, kann schnell das Gefühl entstehen, man würde diese eine bestimmte Sache unbedingt in seinem Leben brauchen. Das stimmt nur nicht, denn Sie brauchen diese Sache nicht auf die gleiche Weise wie Sie Wasser oder Nahrung brauchen. Ihr Überleben steht dabei nicht auf dem Spiel.

Verlangen ist im Gegensatz zu einem Bedürfnis ein intellektueller Appetit auf Dinge, die Sie für wichtig halten. Ihr intellektueller Appetit könnte sein, die Antwort auf ein Problem zu kennen oder das begehrte Jobangebot zu erhalten. Diese Dinge rufen nicht unbedingt körperliches Vergnügen hervor. Für die meisten Menschen ist diese Form der Freude sogar sehr flüchtig, denn es gibt immer etwas zu erreichen – und das hält die meisten von uns in einem ständigen, manchmal schmerzhaften Zustand des nie wirklichen Zufriedenseins. Dieses Streben nach etwas, das wir noch nicht besitzen, heißt Verlangen.

Verlangen bringt keine langanhaltende Freude. Es ist per Definition immer etwas, von dem wir glauben, dass es uns fehlt. Das Verständnis des Mechanismus, durch den Verlangen Gestalt annimmt, kann Ihnen aber helfen, Ihr Leben nicht in einem endlosen Karussell der Wünsche zu verschwenden.

Ein Sozialtheoretiker, der sich diesem Problem angenommen hat, war René Girard. Girard erkannte ein besonderes Merkmal des Verlangens. Er meinte, dass der Mensch ständig danach streben würde, seine Wünsche aus seinem tiefsten Selbst entstehen zu sehen. Aber Girard sah Verlangen weitestgehend als Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses. Verlangen wäre immer etwas, von dem die Menschen glauben, dass es ihnen fehlen würde und das sie nicht selbst erzeugen oder herstellen können. Er nannte diese Form des Verlangens mimetisches bzw. nachahmendes Begehren.

Mimesis kommt vom griechischen Wort für „Nachahmung“. Mimetische Wünsche sind die Wünsche, die wir von den Menschen und der Kultur um uns herum nachahmen. Wenn ich einen Beruf oder einen Lebensstil als gut empfinde, liegt das daran, dass jemand anderes es so modelliert hat, dass es mir als gut und lohnenswert erscheint.

Wie können wir ein anti-mimetisches Leben leben? Der erste Schritt besteht darin, die Wunschmodelle zu identifizieren, die beeinflussen, was Sie wollen. Oft stammen Wünsche von Menschen ab, die Ihnen als Vorbilder dienen und definieren, was Sie für wünschenswert halten.

Stellen Sie sich folgende Fragen, um sich der Modelle bewusst zu werden, die Ihr Verlangen und Ihre Wünsche beeinflussen:

  • Wenn Sie an den Lebensstil denken, den Sie am liebsten führen würden, wer verkörpert ihn Ihrer Meinung nach am besten?

  • Wer war neben Ihren Eltern Ihr wichtigster Einfluss in der Kindheit? Aus welcher „Welt“ kamen diese Personen – einer vertrauten oder einer weniger bekannten?

  • Gibt es jemanden, den Sie nicht gerne erfolgreich sehen? Gibt es bestimmte Menschen, deren Leistungen Sie unbehaglich oder unsicher machen? (Das ist der erste Hinweis darauf, dass es sich um ein „negatives Wunschmodell“ handeln könnte – also um jemanden, an dem Sie sich ständig messen.)

Als nächstes ist es hilfreich zu erkennen, welche Modelle Ihre Wünsche beeinflussen. Girard identifizierte zwei Typen: das Modell innerhalb Ihrer eigenen Welt und das außerhalb. Modelle in Ihrer Welt ("interne Modelle des Verlangens") sind die Menschen, mit denen Sie wirklich in Kontakt stehen: Freunde, Familie, Kollegen. Modelle außerhalb Ihrer Welt ("externe Modelle des Verlangens") sind Menschen, mit denen Sie keine Möglichkeit haben, in Kontakt zu treten, wie Prominente oder historische Persönlichkeiten. Externe Modelle sind Einbahnstraßen – diese Menschen können Ihre Wünsche beeinflussen, aber Sie können deren Wünsche nicht beeinflussen.

Die sozialen Medien fallen in eine seltsame Grauzone. Viele Menschen, denen Sie dort begegnen, sind externe Modelle des Verlangens in dem Sinne, dass Sie sie wahrscheinlich nie treffen werden und sie Ihnen vielleicht nicht einmal „zurückfolgen“. Gleichzeitig fühlt sich jeder für jeden zumindest erreichbar an. Sie wissen nie, wann etwas, das Sie twittern oder posten, von jemandem bemerkt wird. Das ist ein Teil dessen, was die sozialen Medien so verführerisch macht: Es überspannt die Welten der internen und externen Vermittlung von Verlangen.

Online oder offline, je ähnlicher jemand Ihnen zu sein scheint, desto mehr beziehen Sie sich auf ihn oder sie – und desto mehr achten Sie unbewusst darauf, was er oder sie will. Deswegen sind die meisten Menschen auch eifersüchtiger auf den Nachbarn, der einen ähnlichen Beruf und Lebensstil hat, als auf Bill Gates. Es ist leicht, sich obsessiv auf das zu konzentrieren, was Ihre Nachbarn haben oder wollen, anstatt auf Ihre unmittelbare Verantwortung. Wir Menschen sind soziale Wesen, die andere kennen, um uns selbst zu kennen, und das ist gut so – aber wenn wir nicht aufpassen, beschäftigen wir uns zu viel mit anderen und vergessen dabei, dass wir selbst für unser Leben verantwortlich sind.

Die Lösung besteht darin, eine neue Art zu lernen, nicht-rivalisierende Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen – eine neue Art von Beziehung, in der Ihr Selbstwertgefühl nicht von anderen abgeleitet wird. Das hilft Ihnen auch zu entdecken, woher Ihre Wünsche kommen - denn Ihre Wünsche haben immer eine Geschichte. Sie können nicht wissen, was ein „wahrer“ oder „authentischer“ Wunsch ist, wenn Sie nicht verstehen, woher dieser Wunsch kommt. Das beinhaltet, tief in Ihre Vergangenheit einzutauchen, um zu begreifen, wie Sie sich als Person entwickelt haben. Dadurch beginnen Sie auch zu sehen, welche Wünsche Sie schon seit langer Zeit begleitet haben und welche gekommen und gegangen sind.

Ich rutschte in den Beruf der Betriebswirtschaftlerin hinein. Ich habe eine Zeit lang anderen erlaubt, die Geschichte meines Lebens zu schreiben, bis ich meinen eigenen Weg gefunden und mein Leben in meine Hand genommen habe. Deswegen finde ich die Lektion von mimetischen Wünschen so wichtig: Überlegen Sie, woher Ihre Wünsche wirklich kommen und was Sie eigentlich wollen. Es gibt kein perfektes Modell für das Leben, das Sie führen möchten, denn Sie sind eine einzigartige und unwiederbringliche Person. Der Stempel, den Sie auf dieser Welt hinterlassen, wird Ihr eigener sein. Diejenigen, die nach Ihnen kommen, könnten inspiriert sein, Teile ihres Lebens oder ihrer Wünsche nach Ihrem Vorbild zu gestalten, aber auch sie müssen sich auf das gleiche Abenteuer einlassen und lernen, was ihre eigenen Wünsche sind. Die Muster zu sehen, die im Leben und in den Wünschen anderer existieren, und daraus dann etwas Neues und Schönes zu machen ist Ihre Chance und Ihr Vermächtnis.

In diesen Podcast-Episoden finden Sie noch mehr Informationen rund um Bedürfnisse im Design Thinking: